Montag, 17. Juli 2023, 11:18 Uhr
von Magnus

Die Krux mit der direkten Demokratie

Vor kurzem hat die Initiative Abstimmung21 ihre Themenvorauswahl für die neue Abstimmung im Herbst diesen Jahres beendet. Ausgewählt wurden Themen, die bei vielen Menschen Reaktionen von Stirnrunzeln bis Entsetzen ausgelöst haben.

Was ist da passiert?

Was ist Abstimmung 21?

ABSTIMMUNG21 e.V. ist ein gemeinnütziger Verein, der sich dafür einsetzt, dass Volksabstimmungen als Instrument direkter Demokratie nicht mehr nur auf kommunaler oder Bundesländer-Ebene, sondern auch bundesweit in Deutschland ermöglicht werden. Er wurde 2021 als Trägerverein der Kampagne ABSTIMMUNG21 gegründet, die im selben Jahr parallel zur Bundestagswahl eine Abstimmung zu vier Sachthemen durchführte. Der Verein plant vergleichbare Abstimmungen für zukünftige Jahre.

Olaf Seeling, einer der Sprecher der Initiative hat im Newsletter an die Interessent*innen der Organisation die Themenauswahl bekannt gegeben:

  • Abkehr von der Gendersprache
  • Stimmengerechtigkeit beim Wählen
  • Natur- und Schulmedizin gleichstellen
Auszug aus der Website von Abstimmung21 (Stand 17.07.23)

Entsetzte Reaktionen

Im zweiten Newsletter nach der Auswahl geht er auf die teilweise entsetzten Reaktionen auf diese Themenauswahl ein und zitiert einige der Zuschriften, die ihn erreicht haben. Gleichzeitig bittet die Organisation um Spenden, damit sie diese Abstimmung selbstorganisiert, aber ohne wirklich politische Auswirkungen durchführen können. 60.000 Euro sehen sie als dafür nötig an.

Während 2021 parallel zur Bundestagswahl tatsächlich über 300.000 Anmeldungen für diese nicht staatlich durchgeführte Abstimmung vorlagen und im Herbst 2021 auch mehr als 160.000 Stimmen abgegeben wurden, haben jetzt aktuell nur knapp über 10.000 Menschen an der Vorauswahl zu den Themen teilgenommen. Schaut man sich die Themen an, fragt man sich unweigerlich, wer diese Menschen sind und warum diese Themenauswahl so aussieht, wie sie aussieht.

Direkte Demokratie beschäftigt mich schon lange

Ich persönlich muss gestehen, dass ich absolut nicht unbefangen bin.
Ich habe selbst 2016 an der Verfassungsklage gegen CETA von Marianne Grimmenstein teilgenommen und 2017 zur Bundestagswahl die Initiative Bürgerkandidaten ins Leben gerufen und organisiert. Weil mich Demokratie und speziell die vielfältigen Möglichkeiten der direkten oder direkteren Demokratie faszinieren, habe ich 2018 eine digitale Plattform für Online Pro/Contra Mitwirkungsforen für mehr Demokratie mit Förderung des BMBF implementiert. Ich schwimme also in demselben Teich. Trotzdem sehe ich das Ergebnis sehr kritisch und möchte ein paar Erkenntnisse teilen, die vielleicht erhellen, warum das bei der zweiten Durchführung nicht so gut funktioniert hat.

Seit den frühen 90ern gibt es in Deutschland die Organisation Mehr Demokratie e.V. Als Student war ich damals Förderer, als die Organisation noch “Initative Demokratie Entwickeln” hiess, kurz IDEE. Das zentrale Anliegen von Mehr Demokratie ist seit über 30 Jahren eine gesetzlich verankerte und bindende Möglichkeit zur bundesweiten Volksabstimmung. Das ist in der Politik bisher immer gescheitert, am stärksten an der CDU.

Es gibt viele Argumente, die gegen so ein Vorhaben ins Feld geführt werden. Eines der wichtigsten war die Erfahrung aus dem dritten Reich: “Hitler wurde ja auch vom Volk gewählt!”. Die Väter des Grundgesetzes haben mit diesen Erinnerungen im Nacken in der Nachkriegszeit nur sehr wenige demokratische Beteiligungsmöglichkeiten abseits von Wahlen zu den Parlamenten in die Struktur der neu entstehenden Bundesrepublik eingearbeitet. Vor allem aber gibt es auf Bundesebene - der Ebene, die die größte Gestaltungskraft hat und deren Regeln die föderalen Länderregeln brechen - kein einziges angewendetes demokratisches Mitbestimmungselement neben der Bundestagswahl.

Schweiz als Vorbild

Dabei ist das beste Argument für direktdemokratische Beteiligungsformen ausgerechnet unser direkter Nachbar im Süden, die Schweiz. Seit langem sind Volksabstimmungen Teil des demokratischen Prozess der Schweiz. Wichtig ist dabei, dass nicht nur gegen vom Parlament gefasste Gesetzvorhaben abgestimmt werden kann, sondern, dass auch die Bürger*innen selbst die Möglichkeit haben, Themen zu setzen.

Für dieses Einbringen eines bürgerlich gewählten Themas gibt es aus gutem Grund eine Hürde: eine festgelegte Anzahl Menschen muss dieses Thema durch die eigene Unterschrift einfordern. Nur dann misst man dem Thema die Relevanz für eine Volksabstimmung zu. Die Schweiz führt diese Abstimmungen alle 3 Monate durch. 4 Mal im Jahr sind die Schweizer*innen also mit einer Anzahl Fragen beschäftigt und geben ihre Meinung ab. Sie sind das gewohnt.

Die grösste Motivation, an den Abstimmungen teilzunehmen, ziehen die Schweizer aus der Tatsache, dass die Ergebnisse der Abstimmung bindend sind. Es ist also wichtig, die eigene Meinung an der Abstimmungsurne kund zu tun. Genau dieses Element fehlt aber bei Abstimmungen, die keine staatlich anerkannte Bindungskraft haben.

Brexit 2016 als Fiasko

Zum ersten Mal trat dieses Dilemma beim Brexit 2016 ins breite Licht der Öffentlichkeit. Ein von den regierenden Tories unter David Cameron angesetztes Referendum sollte die Stimmung in der Bevölkerung erfragen. Die Briten waren zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht an wirkliche Demokratie gewohnt. Mit dem Mehrheitswahlrecht, das auch die USA praktizieren, wird eine Wahl in Großbritannien meist zwischen nur zwei rivalisierenden Parteien entschieden. Für eine ausdifferenziertere Repräsentation der Ansichten der Bevölkerung bieten die Wahlgesetze keine wirkliche Möglichkeit. Das Referendum war also durch viel Emotion, vielen nicht-nachprüfbaren Versprechungen und auch einer deutlichen Zunahme von Falschmeldungen vor allem in Sozialen Medien gekennzeichnet.

Hier trat - was man erst im Nachhinein bemerkte und dann genauer untersuchte - zum ersten Mal die gezielte, auf einzelne Personen zugeschnittene und psychologisch ausgeklügelte Beeinflussung von Wähler*innen über die sogenannten Sozialen Medien auf. Die Firma “Cambridge Analytica” hat in dem Fall eine unrühmliche Rolle gespielt. Silke Jäger hat bei Krautreporter dazu einen sehr guten Zusammenhang geschrieben.

Den Ausgang kennen wir alle: aus dem nicht bindenden Referendum wurde innerhalb der Tories ein Machtkampf, mehrere Premierminister*innen später sind die Briten dann auch wirklich aus der EU ausgetreten. Einige Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Meinung dazu auch unter den hartgesottenen Brexit-Befürwortern einer Kater-Stimmung gewichen ist.

Meine persönliche These dazu ist folgende: hätten die Briten vorher gewusst, dass das Referendum später als bindend interpretiert wird und hätte demzufolge eine sachlichere und fundiertere Information stattgefunden, wäre das Referendum anders ausgegangen.

Abstimmungen ohne "Wirkung"

Was hat das nun mit den Themen der Abstimmung21 zu tun? Es zeigt sich, dass Abstimmungen, die nicht bindend sind, auch nicht mit nötigen “Ernst” der Abstimmenden durchgeführt werden. Dabei kann man zwei Phänomene beobachten: Menschen, die sich nicht mit den Konsequenzen ihrer Aktionen befassen müssen, zeigen sich extremer. Und zum zweiten: ist eine Abstimmung nicht bindend, nehmen bestimmte Gruppen innerhalb der Bevölkerung diese nicht ernst.

Die "Schlauen" wenden sich wegen Wirkungslosigkeit ab

Diese beiden Aspekte treffen ganz besonders auf die zweite Runde von Abstimmung21 zu. Die Auswirkungen der ersten Runde in 2021 waren gelinde gesagt zu vernachlässigen. Die Abstimmung und die Ergebnisse haben wenig Nachhall in der Medienlandschaft gefunden und die Politik hat diese Initaitive herablassend ignoriert. Der Teil der Abstimmenden, der diese Beobachtungen gemacht hat, wird tendenziell weniger Aufmerksamkeit bei einer Wiederholung aufbringen. Ich möchte das zuspitzen und sagen: “die Schlauen wenden sich wegen Wirkungslosigkeit ab”.

Die "Beschäftigten" engagieren sich (zu) wenig politisch

Jetzt kommen zwei weitere Phänomene dazu und verstärken den Trend. Zum einen haben Menschen, die voll im Berufsleben stehen oder Familie haben, weniger Zeit, sich politisch zu engagieren. Zum zweiten bringen Menschen, die weniger rational, sondern eher emotional an solche politischen Fragen herangehen, eine wesentlich höhere Ausdauer und Lautstärke auf. Ein gutes Beispiel dafür sind Demonstrierende zu verschiedensten Themen, seien es Abtreibungsgegner*innen, Atomkraftgegner*innen oder Tempolimit-Gegner (hier bin ich nicht sicher, ob es auch weibliche Tempolimit-Gegnerinnen gibt). Das “Dagegen-Sein” kombiniert mit dem Gefühl, dass hier jemand anderes einen selbst zu etwas zwingen will, setzt grosse Kräfte frei. Nicht wenige Menschen in dieser Lage verlieren in einer sektenhaften Spirale den Kontakt zur Realität und die Fähigkeit, sich mit anderen Perspektiven wirklich auseinander zu setzen.

Speziell bei der Themenauswahl von Abstimmung21 vermute ich diese Mechanismen am wirken. Der Fakt, das keine einzige relevante Frage weder die Klimakrise thematisiert, noch die Anpassung an die aktuell sehr stark zu bebachtenden Auswirkungen, leitet mich zu folgendem Schluss: dem Team um Abstimmung21 ist es nicht mehr gelungen, die junge Generation, die Eltern und die rational denkenden Menschen zu erreichen und in grosser Menge an der Themen-Auswahl teilzunehmen. Die älteren Menschen mit mehr Zeit, mehr emotionaler Betroffenheit und höherem Widerstandspotenzial sind geblieben und haben über die Themen entschieden. Tendenziell sind diese Menschen auch stärker aktivierbar und besser vernetzt. Ich spitze hier wieder zu und formuliere “die Mitte hat besseres zu tun, der Rand verkämpft sich in weniger relevanten Fragen”.

Mangelnde Reichweite bringt Schaden für die Idee der direkten Demokratie

Ich befürchte, dass damit die Initiative grossen Schaden erleidet. Mit ihr wird leider auch die Idee der direkteren Demokratie entwertet. Die eine Seite wird sich von der Abstimmung abwenden, die Zahl der Teilnehmenden wird deutlich zurück gehen.

Fazit: direktdemokratischere Elemente auf Bundesebene können nur bei breiter Beteiligung, parallel zu stattfindenden Wahlen und mit klar festgelegter bindender Wirkung wirklich erfolgreich umgesetzt werden. Nicht-staatlich aufgestellte Initiativen, die zudem mit grossen Budget-Problemen zu kämpfen haben, sind kein Massstab oder Vergleich, sondern gehören eher in die Kategorie Lobbyismus.

Es tut mir persönlich weh, die Idee Direkte Demokratie so kranken zu sehen. Deswegen ist es mir wichtig, klar herauszuarbeiten, warum dieser Weg in die falsche Richtung führt und was dazu geführt hat: die beobachtbare Wirkungslosigkeit der ersten Abstimmung21 und die fehlende Reichweite in die relevante Gruppen der ernsthaften, reflektierenden und im Alltag sehr beschäftigten Menschen in Deutschland.